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copyright: AllesKlassik,/sammeln u. warten |
Es regnet seit Stunden. Heute Morgen sind wir früh aufgestanden, um uns für das Vorsingen gebührend vorzubereiten. Die Tage davor wurde natürlich schon fleißig geübt, irgendwann hört man dann auf, es ist gut, denkt man. Man kann sich ein wenig entspannen.
Ich erinnere mich, so ging es mir auch in der Schule. Wenn man dann weitermacht, weiter übt, dann wird man müde und unsicher. Trotzdem gilt es, noch viel Zeit zu überbrücken. Denn noch sind wir im Hotel, es ist noch nicht so weit. Die Uhr tickt.
Bühnentüre, wie bei vielen Opernhäusern, eine schlichte, moderne, zweckentsprechende Schleuse, die die Gegenwart von der Zukunft trennt.
Sitzt man dann auf einem der modernen Sofas, ein wenig im Luftzug, denn ist rundherum ein geschäftiges Kommen und Gehen. Der Schal wird enger gebunden. Die Uhr tickt. Die Minuten scheinen trotzdem nicht zu vergehen. Yoga, mentales Entspannungstraining, wie ging die Übung doch gleich? Stimmt es wirklich, dass Yoga entspannt? Ein Schluck Wasser, ein Apfel. Räusper, räusper. Techniker laufen mit langen Leitern vorbei. Eine Chorprobe zieht Frauen und Männer an. Wie Arbeitsbienen schwirren sie herein, begrüßen sich freudig mit dem einen oder anderen Scherz über das schlechte Wetter. Ein mitfühlender Blick trifft Dich, so manches herzliche Lächeln: Na na, es wird so schlimm schon nicht werden!
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copyright: AllesKlassik/Korrepetitor |
Die Uhr tickt. Man verrenkt den Hals, warum der Nacken auf einmal so verspannt ist. Grade fühlte man sich doch recht wohl. Noch einmal geht man im Kopf die Arien durch. Hat man auch die richtige Wahl getroffen?
Der Korrepetitor erscheint und holt die wartenden Künstler ab. Man geht in den Bauch des großen Opernhauses und schon denkt man, ohne Führung müsste man sich in den verwinkelten Mäandern rasch verlaufen und müsste dann -wie Manon- in der Wüste elend verdursten. Natürlich ist das hier nicht der Fall. Gibt es ja auch hier die rettende Mensa, in der es schmackhafte Snacks und die entsprechenden Säfte gibt, die ein Verhungern und Verdursten unmöglich machen.
Für so manchen Künstler ist allerdings nicht so wichtig, wo sich die Mensa befindet, manche benötigen eher den famosen stillen Ort, der großen Aufregung letzte Zuflucht.
Nicht so bei uns, die Erfahrung macht nicht nur weiser, sondern auch entspannter.
Der Korrepetitor fragt nach der Reihenfolge. Wenn es eins gibt, was ich gelernt habe, niemals zuwarten. Ich selbst hatte das Glück, sehr oft ganz am Anfang dranzukommen, da mein Name mit „A“ beginnt. Wenn das auch manchmal Riesenstress bedeutet, so ist meine Devise: sich drauf freuen, es aber doch so rasch wie möglich hinter sich bringen. Denn die Spannung staut sich, die Uhr tickt. Zuviel Spannung würde mich zum Platzen bringen.
Man hört dann immer die gleichen Geschichten: Der eine muss ein Flugzeug erreichen, der andere hat auch gleich etwas Lebenswichtiges vor. Wer sich da nicht durchsetzt, läuft Gefahr, dass er warten muss, dass die Jury schon müder ist, als man selbst. Aber – vielleicht ist die Reihenfolge auch egal. Es kann ja auch anders herum sein. Manchmal kommen noch wichtige Leute später dazu.
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copyright:AllesKlassik/Anmerkungen |
Also auch hier bleibt die Frage des Was Wo Wer zu Welcher Zeit ohne Antwort. Ein bisschen Glück wäre jetzt das Richtige. Die Uhr tickt. Das Einsingen geht meistens ohne Probleme. Noch ist der Pianist frisch bei der Sache, noch nimmt er Deine Anmerkungen entgegen. Man versucht, einen gemeinsamen Nenner zu finden mit jemandem, den man noch nie zuvor gesehen hat. In knappen zehn Minuten. Wie schön wäre es, jetzt ein bekanntes Gesicht vor sich zu haben. Einer, der weiß, wo Du Deine Pausen setzt, wo Du schneller wirst, wo er sich zurücknehmen muss, wo er warten soll. Alles klar? Ja ja! Alles klar, ein etwas verzerrtes Lächeln. Die Uhr tickt.
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copyright: AllesKlassik/Künstler, bereit fürs Vorsingen |
Man wird vor die Hauptbühne gebracht. Die Anderen sind auch da, so viele? Einige bleich und regungslos, als gälte es, gleich zur Hinrichtung geführt zu werden. Andere verknoten mit Strechingübungen die Arme, oder starren zur Barockdecke, knacken mit den Fingerknöcheln, trinken Wasser, weben hin und her, wie Tiger im Käfig. Die Uhr tickt.
Dann plötzlich laute Stimmen, die Jury kommt den Gang entlang. Erkennt man jemanden? Kann man hier ein Lächeln einsetzen? Gibt es einen Engel unter Unbekannten? Die Jury rauscht vorbei, knapp bleibt Zeit für ein Hallo, kein richtiges Kennenlernen. Schon gehen sie weiter in den Zuschauerraum, um Position zu beziehen, mitten im goldverzierten Prachtsaal, in entsprechender Entfernung von der Bühne, auf der – ganz verloren- ein Klavier steht, an dem sich gleich der erste Kandidat festhalten wird. Die Uhr tickt.
Es geht los, man muss noch einmal warten. Ohne Ohrstoppel kann man sich nicht wehren – man hört unweigerlich dem ersten Kandidaten zu. Dem Profi macht das nichts aus, und selbst wenn, er würde es nie zugeben.
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copyright:AllesKlassik/Die Jury |
Man rollt die Augen, der Kandidat singt sehr gut. Wie weggeblasen ist seine Panik.
Jetzt kann es auch bei Dir nicht mehr lange dauern. Die Uhr tickt, die Spannung steigt weiter, bis wohin wohl?
Kandidat Nr. 2 (der noch etwas Lebenswichtiges vorhat) nimmt man eigentlich gar nicht mehr wahr. Man ist irgendwo anders, zwischen Donizetti, Verdi, Partituren, schnell spielenden Korrepetitoren. Man denkt an alles Mögliche, an Amerika, seine Mutter, den Riesenhamburger, den man in ein paar Stunden verspeisen möchte. Das aufmunternde SMS der besten Freundin sieht man nicht, das Handy ist ja schon lange abgeschaltet. Man denkt an Einsatz, Arien und Takt, die Gedanken beginnen zu flimmern. Man sieht sich als Königin der Nacht, als Sigfried, Leonora, Faust, Nemorino, Gilda oder Pinkerton, je nachdem. Die Uhr tickt.
Dann ist es so weit, man wird hinaufgeworfen: Bühne frei. Irgendwo im Saal die Jury.
Jetzt steht die Uhr auf einmal still.Wer wohl Vorsingen erfunden hat? Alle halten sich an das Prozedere, dann wird es wohl schon so richtig sein.
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copyright: AllesKlassik/Das Vorsingen |
Ich denke mir, wenn ich ein Opernhaus leiten würde, ich würde die Sänger erst kurz persönlich in Augenschein nehmen und sie erst dann in die Höhle der vor die anderen Löwen schicken. A capella Vorsingen wäre irgendwie auch gerechter. Ich habe schon den einen oder anderen Korrepetitor erlebt, der auf die Handzeichen der Sänger nicht oder nur schwerfällig reagiert. Wo die Absprachen bei den Proben auf der Bühne vergessen sind. Klavierbegleiter sind auch nur Menschen.
Dennoch, wie gerne würde ich einmal mit einem Castingdirektor über solche Situationen plaudern. Ist es so, wie ich mir denke, dass es sein sollte: die Jury soll den Gesamteindruck bewerten, das Charisma, das der Sänger rüberbringt, die Gänsehaut, die er mit einem schönen Pianissimo zaubern kann, die Persönlichkeit, die ihn unverwechselbar machen wird? Oder zählt doch der erste Eindruck, die ersten 2 Minuten?
Ich hoffe, die Jury hört nicht nur auf die Spitzentöne. Viele(auch große) Sänger, haben doch auch ihre guten und schlechten Tage. Was soll’s. Es wird schon gut sein. Die Uhr steht immer noch still.
Deine Töne treten die Reise an: von der leeren Bühne, dem verlorenen Klavier heben sie sich hinweg in die warme Luft des leeren Auditoriums, über roten Samt hinweg, hüpfen über die hochgeklappten Sitze, springen zurück von den goldverzierten Putten, die schelmisch lächelnd an Harfen zupfen und keck das pausbackige blanke Hinterteil gegen den breiten Kristallluster an der Decke strecken. Die Töne surfen durch den Raum, der allem Anschein nach eine hervorragende Akustik besitzt, und treffen auf rund vierzehn Ohren. Man beobachtet die Bewegungen, während man beherzt die erste Arie zu Ende bringt.
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copyright: AllesKlassik/Das Vorsingen |
Eine leere Sekunde danach – ein schwarzes Loch. Was sagt die Jury. Die Uhr steht immer noch.
Weiter bitte, was haben Sie noch, fragen sie. Ja, diese Arie hätte man gerne gehört. Gut, gerne und los. Jetzt geht es ein wenig entspannter. Man vergisst einen Augenblick alles rundherum. Man wird zur Figur. Das verlorene Klavier ist nun der Drache, der Arm das Schwert. Ja, das ist es, das will man: Opernsänger sein. Hier ist die Welt, das Leben, die Erfüllung.
Es ist geschafft, plumps, das war der Riesenstein, der vom Herzen fällt. Man hat sein Bestes gegeben, die Zeit war knapp. Man ist erleichtert. Noch einmal passieren die letzten Minuten vor unserem Auge. Dies hätte man gut gemacht, dort hätte man mehr geben können, wenn dies oder das anders gewesen wäre. Aber es hat ja wenig Sinn, jetzt nachzusinnen. Froh sein, dass man es bis hierher geschafft hat, dass man standgehalten hat, fertigsingen durfte. Nun liegt es an der Jury.
Der Tag neigt sich zu Ende, noch immer regnet es. Aber wen stört das? Ja, schon, es wird die Heimreise erschweren, aber macht ja nichts: die Uhr tickt wieder, aber jetzt – siehe da – tickt sie gleichmäßig, so wie an einem sonnigen Sonntagmorgen, an dem man vom Vogelgezwitscher aufgeweckt wird und an dem man ein krosses Minicroissant zu einem heißen starken Cafè macchiato beim entspannten Frühstück verzehrt.
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copyright:AllesKlassik/ Abschlussfoto und ab in den Flieger |
Zeit, sich so zu entspannen. Der nächste Nervenkitzel steht ja schon auf dem Programm. Aber so ist das eben, wenn man Opernsänger ist.
Ingrid Adamiker